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Aserbaidschanische Minderheit in Georgien

Integrations- und Identitätsprobleme

der aserbaidschanischen Minderheit in Georgien

Integrationspolitik für ethnische Minderheiten als strategische Aufgabe

Dass die Frage der ethnisch-territorialen Konflikte und des Umgangs mit ethnischen Minderheiten im gesamten Kaukasus das wichtigste Problem ist, bezweifelt heute kaum jemand. Erwiesen sich doch diese ungelösten Konflikte als das größte Hindernis für die Staats- und Nationsbildung in allen drei südkaukasischen Ländern.
In jüngster Zeit hat sich gezeigt, dass wir es nicht einfach mit sogenannten „eingefrorenen“ regionalen Konflikten zu tun haben, sondern die Auseinandersetzungen Bestandteil internationaler Politik sind und globale Spannung anheizen können. Das bedeutet, die entstandenen Problemsituationen gefährden nicht nur für die Sicherheit des jeweiligen Landes, sondern können auch für die ganze Weltordnung eine Bedrohung darstellen. – Der letzte Krieg um das abtrünnige Autonomie-Gebiet Südossetien im August 2008 und die damit verbundenen Reaktionen der Großmächten (Russland, USA, EU-Länder) legen davon ein beredtes Zeugnis ab.
Diese Ereignisse sollten nicht nur die georgische und andere kaukasische Gesellschaften, die seit Jahren ihre ethnisch-territorialen Konflikte und Minderheitsprobleme nicht gelöst haben, sondern auch die Politiker der Großmächte zur Ernüchterung bringen:
Die Konfliktlösung und Integration ethnischer Minderheiten ist in der Tat zu einer sicherheitspolitischen Frage nicht nur für die südkaukasischen Staaten geworden!
Stand bisher die Frage der Integration ethnischer Minderheiten in den polyethnischen Staaten Kaukasiens am Ende der Rangliste von Regierungsaufgaben,  ist diese Frage für die Regierungen dieser Länder zu einer der wichtigsten strategischen Aufgaben geworden. Welche Wege zur vollständigen Integration der verschiedenen Völkerschaften zu einer Staatsnation führen, wie sich Staatlichkeit und Souveränität mit Förderung kultureller Autonomie von Minderheiten harmonisieren lässt – all diese Fragen müssen in diesen Gesellschaften ausgiebig diskutiert werden, um umsetzbare Konfliktlösungen zu finden, es gilt Entscheidungen treffen, die von einer Bevölkerungsmehrheit – unabhängig von ethnischer oder religiöser Bindung – verstanden und getragen werden.
Beim Betrachten des Zusammenhangs zwischen der außergewöhnlichen Vielfalt der Ethnien, Kulturen, Religionen und Sprachen im Kaukasus einerseits und dem heutigen Zustand der Region als „Konflikt-Herd“ andererseits sollte man allerdings davon ausgehen, dass der erstgenannte Faktor nicht zwangsweise die Ursache für die zweiten ist. Denn „Aspekte der Ethnizität im Kaukasus (können) zwar als Faktoren regionaler Konflikte präsent sein, aber sie sind keinesfalls als generelles Moment der Konfliktauslösung zu beschreiben. Der ethnische „Flickenteppich“ zeigt zwar an den Nahstellen Konfliktpotential, doch ist er selbst hierfür am wenigstens verantwortlich.“

Das Problem mit Minderheiten begrenzt sich in Georgien nicht nur auf die abtrünnigen Gebiete im Norden und Nordwesten. „An Georgiens Rändern konzentrieren sich mehrere ‚Unsicherheitsregionen’, in denen interne und externe, lokale und globale Einflussfaktoren untrennbar miteinender verwoben sind…In diesen Regionen greifen Staats- und Nationsbildung mit Konfliktbearbeitung und Konfliktprävention direkt ineinander.“

Georgiens Beispiel mit seinen bitteren Erfahrungen bietet hier zweifellos mehr als genügend Stoff zu grundsätzlichen Überlegungen und Schlussfolgerungen. So ist es kein Zufall, dass ernsthafte Experten für die Region bei der Beschreibung des Weges Georgiens in die Unabhängigkeit immer wieder auf die fast parallel laufenden Sezessionsprozesse, die gleich von Anfang an die georgischen Unabhängigkeitsbestrebungen begleiteten, hinweisen. Dabei wird auch hervorgehoben, dass sich die ethnisch-territorialen Konflikte mit den eigenen Minderheiten auch als ein Ergebnis nationalistischer Tendenzen innerhalb der georgischen Gesellschaft entwickelten. Die Fragestellung, ob diese Konflikte die Rolle als identitätstiftende Faktoren ausfüll(t)en, verweist auf diese Verbindung zwischen Prozessen der Nationsbildung und der Minderheitenpolitik.
Also, nach Meinungen vieler Beobachter sind bei der Zuspitzung der heute weltweit bekannten Konflikte nicht allein äußere Einflüsse, wie Russlands Großmachtambitionen und seine georgienfeindliche Politik an der Eskalation der Konflikte Schuld, sondern auch die eigene, unausgeglichene Minderheitenpolitik hat viel dazu beigetragen.
Die extremen Probleme mit der aserbaidschanischen Minderheit kann hierfür als überzeugendes Beispiel dienen. Dabei soll es in diesem Beitrag nicht um eine Darstellung der gegenseitigen Anschuldigungen gehen. Eher möchten wir neben der Vermittlung von Informationen die Diskussion anregen zur Frage, inwieweit die Entwicklung der georgischen Zivilgesellschaft auch gemessen werden muss am Selbstfindungsprozesses der georgischen Bürger und ihrer Regierung, am Aufbau einer Zivilgesellschaft, die sich dem Vorbild der französischen Staatsnation annähert und entscheidet, ob das neue Georgien ein „Wir“ im Staat oder ein „Wir“ als ausschließlich georgische (Kultur-)Nation verkörpern soll.
Doch nähern wir uns dieser Problematik zunächst von der faktologischen Seite.

„ Georgische Aserbaidschaner“:
Wer sind sie?

Georgien ist traditionell ein multiethnisches und multireligiöses Land.
Nach der letzten allgemeinen Volkszählung von 2002 leben hier 26 Volksgruppen: 83,6% von 4,3715 Mio. waren Georgier, rund 16% gehörten ethnischen Minderheiten an, unter denen wiederum die Aserbaidschaner oder „aserbaidschanischen Türken“ (dieser Begriff wird vor allem von Vertretern der Intelligenzija genutzt, die meistens schon lange in Baku leben und sich für die Rechte der georgischen Aserbaidschaner einsetzen) mit 6,5% oder 284.800 die größte Minderheit in Georgien stellten.  Sie gehören zu den ca. 500 Tausend Muslimen Georgiens bei einer Gesamtbevölkerung von 4,3 Mio. EW.
Allerdings zeigt sich, dass bei insgesamt rückläufigen Geburtenzahlen das Wachstum der aserbaidschanischen Bevölkerung noch das größte ist. Auch wenn das Tempo im Vergleich zu 1989 gedrosselt ist, wo z.B. auf 1.000 Georgier 16 Neugeborene kamen und auf 1.000 Aseris 28 Neugeborene, so gehen Schätzungen immer noch davon aus, dass bis zum Jahre 2015 der Anteil der aserbaidschanischen Bevölkerung 10% der georgischen Einwohnerzahl erreichen wird.
Ihrer religiösen Zugehörigkeit nach sind die meisten aserbaidschanischen Türken schiitische Muslime, aber es gibt auch Sunniten.
Die Aserbaidschaner wohnen mehrheitlich in folgenden fünf Gebieten (ca. 7 000 Quadratkilometer) relativ kompakt: Marneuli,  Bolnisi, Dmanisi, Gardabani, Sagaredscho – in vier davon stellen sie die absolute Mehrheit der Bevölkerung (siehe Karte), wo sie sich überwiegend landwirtschaftlich betätigen.
Unabhängig von diesen traditionellen Siedlungsgebieten wohnen sie in größerer Anzahl auch in anderen Regionen wie Kachetien, Zentral-Kartli (Shida Kartli) und besonders in den Städten Tbilisi, Mzcheta, Rustawi, Kaspi, Gori, Kutaisi, Batumi u.a..

Die Aserbaidschaner selbst betrachten sich als ein autochthones Volk, das seit mehreren hundert Jahren in diesem Gebiet beheimatet ist,  während sie nach georgischer Version nicht zu den „angestammten“ Ethnien (nekorennye etnosy) gerechnet werden, da sie erst im späten Mittelalter in Georgien aus Persien und dem Osmanischen Reich zwangsweise angesiedelt wurden, um die südöstlichen Provinzen Georgiens zu kolonisieren. In nationalistischer Interpretation wird mit diesen Argumenten sogar von Aserbaidschanern als „Gästen“ gesprochen.
Zeigt sich hier bereits ein erster Reibungspunkt, so bleibt doch die Tatsache, dass heute die Aserbaidschaner die zweitgrößte Ethnie in Georgien stellen, und sie zugleich den größten Geburtenzuwachs aufweisen.  – Das ist die erste Eigenschaft, die diese nationale Minderheit von anderen unterscheidet. Einige weitere charakteristische Merkmale werfen ein Licht auf die heutige Situation der aserbaidschanischen Minderheit in Georgien:
So besteht eine zweite charakteristische Eigenschaft dieses Bevölkerungsteils darin, dass sich die aserbaidschanische Gemeinschaft traditionell abgesondert, fast isoliert von der georgischen Gesellschaft lebt. Die Mehrheit der Aserbaidschaner hat sich faktisch fast immer vom gesellschaftlichen und politischen Leben im Land zurückgezogen und sich in der jüngeren Geschichte sogar eher mit der Republik Aserbaidschan als „ihrem“ Staat (Georgien) identifiziert.
- Wegen dieser genannten zwei Eigenschaften der aserbaidschanischen Minderheit sehen einige Politologen künftig große ethnopolitische Probleme für Georgien.

Allerdings ist hier auf eine dritte Eigenschaft dieser Minderheit zu verweisen, die ihrer Abgesondertheit gegenüber steht: die aserbaidschanische Minderheit ist bis heute vielleicht die einzige, die trotz der Quantität bisher keinen politischen Separatismus hervorbrachte!

Eine vierte Eigenschaft besteht darin, dass die überwältigende Mehrheit der georgischen Aserbaidschaner die Staatsprache nicht beherrscht oder nicht einmal die georgische Schrift lesen kann.

Eine fünfte Eigenschaft: die aserbaidschanische Minderheit in Georgien ist weder auf Regierungsniveau noch in anderen höheren Ämtern (Justiz, Bildung u a.) vertreten.

Eine sechste Eigenschaft, die die aserbaidschanische Minderheit in Georgien charakterisiert, ist eine kontinuierliche, teilweise massenhafte Auswanderung. Immer mehr Aserbaidschaner verlassen ihre Heimatorte und ziehen für immer in die Republik Aserbaidschan, vor allem in die Hauptstadt Baku, oder nach Russland. Bereits zu Sowjetzeiten mussten diejenigen, die in ihrer Muttersprache an einer Hochschulen studieren wollten nach Aserbaidschan und blieben nach dem Studium meistens dort. Hinzu kommen Arbeitsemigration und Auswanderung durch Eheschließungen, Zahlen die jährlich nicht gering sind.

- Die siebente Eigenschaft dieser Minderheit ist gerade eine Folge des  obengenannten jahrzehntelang dauernde intensiven Auswanderungsprozesses, nämlich: in Aserbaidschan entstand bereits seit den 1950/60er Jahren ein sogenannter „Borçalılar-Clan“  , der eine ziemlich bedeutende Rolle in der dortigen Gesellschaft spielt. Die Vertreter dieses regionalen Netzwerkes haben in Wirtschaft, Politik, Bildung, Kultur u a. Bereichen ihre eigenen Interessengruppen gebildet, die sich wiederum gegenseitig unterstützen.  Dabei haben die Bakuer-Borčaly(s) die Lobby-Rolle für ihre Landsleute in Georgien übernommen.

Noch ein charakteristisches Merkmal für die georgischen Aserbaidschaner ist, dass sich die überwältigende Mehrheit traditionell mit der Landwirtschaft beschäftigt, aber viele von ihnen nach der Unabhängigkeit Georgiens bodenlos wurden.

Es gibt natürlich noch mehr Eigenschaften, durch die sich die aserbaidschanische Minderheit von anderen ethnischen Minderheiten stark unterscheidet, aber wir haben hier nur die bemerkenswertesten hervorhoben.

3.  Wie steht es mit der Selbstidentifikation der georgischen Aserbaidschaner? Gibt es einen Platz für Aserbaidschaner und die anderen Muslimen im christlichen Georgien?

Es ist wichtig zu wissen, dass im postsowjetischen Raum neben der ethnischen Zugehörigkeit auch andere Faktoren wie etwa die lokale und soziale Herkunft oder gesellschaftliche und wirtschaftliche Interessen oft eine bedeutende Rolle bei der Identitätsbildung spielen.  Ausdruck dessen ist z.B. der „in allen Kaukasusgegenden ausgeprägte Klientelismus – jene „Seilschaften“ auf wirtschaftlicher, regionaler, beruflicher oder ideologischer (aber eben nicht unbedingt ethnischer!) Basis, die zur Erlangung politischer oder wirtschaftlicher Ziele genutzt werden.“
Dieser Befund trifft auch auf die georgischen Aserbaidschaner zu, die sich wiederum als kleinere Sub-Gruppen unterscheiden: unter den Großstadtbewohnern gibt es viele, die sich seit Jahrzehnten in die georgische Gesellschaft integriert, ja mit dieser vermischt haben, so dass sie ihre Identität eher als „georgisch-aserbaidschanisch“ (also: in erster Linie: als georgisch!) beschreiben; andere – meistens die Bewohner kleinerer Provinzstädte – bezeichnen sich oft als „aserbaidschanisch-georgischer“ Herkunft. Die Anzahl der Angehörigen dieser beiden Untergruppen soll jedoch gering sein im Verhältnis zur ganzen aserbaidschanischen Minderheit, von der die überwältigende Minderheit (vor allem die ländliche Bevölkerung in und um Borčaly sich gar nicht mit der georgischen Gesellschaft identifizieren kann.
Wenn es um die Beziehung von „Borçalılar“ zum georgischen Staat geht, sieht die Situation viel schlimmer aus: in der Geschichte des 20.Jh.s ist es immer so gewesen, dass sich die georgischen Aserbaidschaner mit der Republik Aserbaidschan mehr identifizierten als mit der georgischen Staatlichkeit.
Über die Frage, warum das so ist, kann man sicher viel diskutieren und mehr noch vermuten. Tatsache ist, dass eine solche Einstellung georgischer Bürger aserbaidschanischer Herkunft für den Staat Georgien einen Verlust bedeutet und eine potentielle Gefahr in sich birgt, auf die  später eingegangen wird.
Die Hintergründe für diese bizarre Situation sind vielfältig.
Zunächst ist zu konstatieren, dass es bis heute keine gezielte staatliche Integrationspolitik gab und entsprechend kann ein solch bitterer Befund nicht verwundern.
Die aserbaidschanische Minderheit musste dagegen seit der Unabhängigkeit Georgiens anstelle einer staatsbürgerlichen Integrationspolitik zahlreiche Negativerfahrungen mit zentralen und regionalen Regierungskreisen machen: Diese reichten von Diskriminierungen und Bedrohungen, Verfolgungen und Erpressungen, Enteignungen und Demütigungen bis zu (auch international berichteten) massiven Menschrechtsverletzungen.
Das Ausmaß war allerdings bei jedem Machtwechsel unterschiedlich: unter dem Ultranationalisten Zwiad Gamsachurdia erreichten die Diskriminierungen ihren Höhepunkt: aserbaidschanische Siedlungen wurden von den offiziellen „Mchedrioni“ – Banditen angegriffen, Menschen wurden getötet, entführt, aus der Heimat verjagt, die Menschen wurden enteignet  – also Willkür und Gewalt gegen eigene Bürger beherrschten das Land und betrafen insbesondere nichtethnische Georgier!
Kritische Stimmen aus der Reihen der georgischen Intelligenzija beschreiben diese Zeiten am besten: “Als die Georgier …Swiad Gamsachurdia, dem Patriarchen des georgischen ‚ethnisch begründeten Nationalismus’ folgten, wählten sie…den ‚Weg in Nichts’. Statt den bunten Flickenteppich Georgien zu einer pluralistischen Gesellschaft umzugestalten, griffen die Georgier zu Parolen wie „Georgien den Georgiern!“ oder „Lang lebe das christlich-orthodoxe Georgien!“, wodurch sie sich sowohl die Abchasen als auch die anderen religiösen und ethnischen Minderheiten derart entfremdeten, dass das Land bis zum heutigen Tage am Abgrund seiner Auflösung balanciert“ .
In der Schewardnadse-Ära ging die Gewalttätigkeit zwar zurück, aber Diskriminierungen und Willkür gegenüber Aseris waren doch ziemlich weit verbreitet.  Natürlich setzten auch die Aserbaidschaner viele Hoffnungen auf die neue demokratische Regierung von Saakaschwili, hatte er doch bei seiner Teilnahme am Novruz-Fest 2005 erklärt, dass die Integration aller Ethnien, die Förderung von bürgerlichem Bewusstsein, Professionalität und Loyalität Regierungspriorität genieße. Aber die geweckten Hoffnungen erwiesen sich in den Augen vieler Bürger als trügerisch. Denn die im Rahmen des Programms „Zukunft beginnt heute“ erzielten Verbesserungen berührten kaum die Hauptprobleme der aserbaidschanischen  Minderheit.
Darüber hinaus ist die eindeutige Ignoranz gegenüber der islamischen Religion der aserbaidschanischen Minderheit immer noch besorgniserregend.  „Welcher Glaubensrichtung sie auch angehören mögen,  die georgischen Muslime empfinden immer mehr Unbehagen, sich mit der neuen nationalen Ideologie zu identifizieren, die das Regime von Saakaschwili stützt. Ihre geringe Identifikation mit einem Staat, der deutlich seine Hingabe an christliche Werte erklärt, riskiert in den kommenden Jahren die Verständigung abzuschwächen, welche schon jetzt nur mit Mühe zwischen den stark islamisch geprägten Provinzen bzw. Distrikten und der Hauptstadt aufrecht erhalten wird.“  – mit diesen Gedanken leitete im August 2005 Bayram Balci eine Artikel unter dem Titel ein: „Gibt es Platz für den Islam im christlichen Georgien von Michail Saakaschwili?“
Diese Frage könnte man jedoch anders stellen: Gibt es Platz für Aserbaidschaner und die anderen Muslimen im christlichen Georgien?“

Mit einem Wort: bei derartigen Beziehung des Staates zu seinen eigenen Bürgern – der größten ethischen Minderheit – konnte kaum erwartet werden, dass sich diese Menschen für die georgische Staatlichkeit begeistern oder sich mit dieser Zentralmacht identifizieren können. Die fast rechtlose Lage provozierte das Gegenteil: sich von der Staatsmacht abgestoßen zu fühlen und für sich Schutz außerhalb des Landes (in diesem Fall beim benachbarten Staat Aserbaidschan) zu suchen.
In dieser Situation scheint umso mehr bewundernswert, dass die georgischen Aserbaidschaner ihre Negativerfahrungen bisher zügeln konnten, und es bis heute zu keinen Auseinandersetzungen, keinen Ausschreitungen gekommen ist.
Allerdings kann man auch auf keinen Fall damit rechnen, dass die georgischen Aserbaidschaner das alles, was mit ihnen geschieht auch weiterhin dulden. Zumal bestimmte äußere Kräfte sehr daran interessiert sind, die Situation in Georgien weiter zu destabilisieren.
Auf diese Gefahr haben selbst georgischen Autoren mehrfach hingewiesen: “Die strategische Partnerschaft zwischen Georgien und Aserbaidschan sowie die soziale Trägheit der Aserbaidschaner in Kwemo Kartli haben die Illusion einer einstweiligen Stabilität entstehen lassen. Die georgische Regierung nimmt die Bevölkerung dieser Region nach wie vor als eine riesige Wahlurne wahr und fährt bei dortigen ‚Wahlen’ regelmäßig Rekordernten ein.“
In diesem Zusammenhang ist darauf zu verweisen, dass in russischen Medien bereits Publikationen erscheinen, in denen man die Prognose äußert, dass Georgien bald aufgeteilt werde, denn nach den Abchasen und Osseten seien bereits andere Ethnien  – vor allem die Aserbaidschaner – bereit, den Kampf für ihre Unabhängigkeit von Tbilisi aufzunehmen.
Gleichzeitig äußerten kürzlich in Baku einige Politologen und Politiker Meinungen, dass es an der Zeit sei, eine Autonomie für die georgischen Aserbaidschaner zu verlangen bzw. das „Gebiet Borčaly der Republik Aserbaidschan anzuschließen, da es ja eigentlich dazu gehöre“ (Vafa Guluzade  u a.). – Die Situation um die aserbaidschanische  Minderheit in Georgien ist also momentan in einem Maße angeheizt, dass auf Initiative des Abgeordneten Nasib Nasibli (oppositionelle Musawat-Partei), der selbst aus Georgien stammt, dem Parlament Aserbaidschans vorgeschlagen wurde, die Erörterung der Situation auf die Tagesordnung zu setzen.
Wenn man in Betracht zieht, dass sich die aserbaidschanische Regierung bisher wegen der strategischen Bedeutung gutnachbarschaftlicher Beziehungen zu Georgien zurückgehalten hat, den georgischen Regierungskreisen irgendwelche Vorwürfe zu machen, dann kann man daraus schließen, wie aktuell und prekär die Lage momentan ist.
Es liegt völlig fern, die Situation zu dramatisieren, aber es gilt zu bedenken, dass die aserbaidschanische Gesellschaft durch die Vertreibung von Aserbaidschanern aus Armenien und Berg-Karabach in der jüngsten Geschichte teilweise hochgradig sensibilisiert, ja traumatisiert für solche Fragen ist.
Vor diesem Hintergrund scheint es dringend notwendig, dass sich die georgischen Machthaber schnell und ernsthaft mit den Problemen der größten nationalen Minderheit auf ihrem Territorium beschäftigt, wenn sie ein Vertrauensverhältnis herstellen will.
Dabei gibt es unaufschiebbare, primäre Fragen und solche, die nur längerfristig gelöst werden können:
Zu den Forderungen der aserbaidschanischen Bevölkerung gehören u.a. folgende Punkte:

1. Ausdehnung der Landreform auch auf die aserbaidschanische Bevölkerung und damit Einräumung des Rechtes auf Privateigentum an Grund und Boden auch für Aserbaidschaner.
2. Gleiche Bildungschancen durch eine bessere Versorgung der aserbaidschanischen Siedlungen mit einer vollwertigen Bildung nicht nur in aserbaidschanischer sondern in georgischer Sprache.
3. Gleiche Berufschancen ohne  ethnische Diskriminierung insbesondere bei der Aufnahme in den Staatsdienst auf kommunaler, regionaler und Republiksebene einschließlich der Rechtsorgane.
4. Annullierung der Umbenennungen von aserbaidschanischen Siedlungen (ca. 300 Toponyme wurden aus dem Aserbaidschanischen in georgische Bezeichnungen umgewandelt).
5. Einrichtung eines vereinfachten Zoll- und Grenzregimes für die Bevölkerung in den  Grenzgebieten zu Aserbaidschan.
6. Veröffentlichung von Informationen, auf welche Weise die Untersuchungen zur Ermordung und Entführung von 24  Aserbaidschanern, Bürgern Georgiens, geführt werden, Ergreifung und Verurteilung der Schuldigen u a.
Es scheint, dass die Erfüllung dieser Forderungen seitens der georgischen Regierung eine gute Grundlage schaffen könnte, um den entstandenen Vertrauensverlust abzubauen und eine Grundlage für weitere Integrationsmaßnahmen zu  schaffen.
Tatsächlich wird in letzter Zeit von der georgischen Regierung in Richtung Integrationspolitik einiges getan und das erweckt bei der Bevölkerung, bei der ethnischen Minderheiten neue Hoffnungen.

Die ersten erfolgreichen Schritte zur Integration

In letzter Zeit sind durchaus Ansätze seitens der georgischen Regierung erkennbar, die Probleme der Minderheiten nicht mehr offiziell zu negieren oder als alleinige „Einmischung von außen“ abzutun. Man hat seitens der georgischen Regierung scheinbar erkannt, dass die  Missstimmungen unter den ethnisch nicht georgischen Bevölkerungsteilen ein neues Risiko für den Ausbruch territorialer Konflikte in sich bergen.
So werden konkrete Maßnahmen unternommen, um die Situation in den Minderheitengebieten zu verbessern, wie Straßenausbau und Infrastrukturentwicklung. Zugleich wurde ein spezielles Ministerium für Fragen der bürgerlichen Integration geschaffen und ein Institut für staatliche Verwaltung für die Minderheiten gegründet. Bereits das zweite Jahr gibt es die Verwaltungsschule „Zurab Schwanija“, wo Vertreter der nationalen Minderheiten während ihrer Ausbildung zugleich einen Intensivkurs der georgischen Staatssprache durchlaufen.
Der wichtigste Schritt nach vorn der neuen Regierung besteht darin, dass Gesetze im ganzen Land beginnen zu greifen, während früher nicht nur Gesetze in Einzelfällen umgangen, sondern in den Minderheitengebieten systematisch verletzt wurden. Fast schien es, als ob die georgische Regierung die Gesetzesmacht in Kwemo-Kartli und Samzche-Dschawacheti in die Hände örtlicher Clans gelegt hätte. Erst seit der Rosenrevolution verstärkte sich der Einfluss des offiziellen Tbilisi und inzwischen ist die Macht örtlicher Clans in Fragen der Verwaltung und Rechtssprechung fast völlig gebrochen. Als Beispiel dafür können die letzten Kommunalwahlen dienen, als die Aserbaidschaner von Kwemo-Kartli tatsächlich ihre Kandidaten wählten und nicht mehr wie früher für diejenigen, die entsprechenden Druck ausübten, stimmten. D.h. es verbesserten sich die Möglichkeiten für georgischsprechende Aserbaidschaner durch ihre Arbeit in gesellschaftlichen oder staatlichen Strukturen vorwärts zu kommen und nicht wie früher allein durch Verwandt- oder Bekanntschaft.
Im Januar 2008 wurde ein spezielles Programm vorgelegt, welches auf die Integration der in Georgien lebenden Aserbaidschaner in die georgische Gesellschaft gerichtet ist und Präsident Saakaschwili erklärte die Lösung der Probleme der ethnischen Minderheiten zur Priorität der Regierung (wobei die einige Vertreter der aserbaidschanischen Menschenrechtorganisationen sich dazu ziemlich skeptisch geäußerten).  Mehrfach hat er versprochen, dass sobald die Frage der Verbesserung der Bildung für aserbaidschanische Georgier gelöst sei, der Prozess der Arbeitsaufnahme in Staatsorgane vereinfacht würde und auch die sozialen Probleme allmählich gelöst werden. Entsprechend wurde der Beschluss gefasst, zusätzliche Kurse für das Erlernen der georgischen Sprache an aserbaidschanischen Schulen einzuführen. Seit Beginn des Staatsprogramms wurden in 50 größeren Schulen der aserbaidschanischen Siedlungsgebiete besondere Sprachprogramme aufgelegt. In den Grundschulklassen wird bereits Georgisch unterrichtet, jedoch nur drei Mal in der Woche, was sicher zu wenig ist. Nach wie vor fehlt es jedoch an gut ausgebildeten Georgischlehrern oder georgischen Lehrern, die bereit sind in den aserbaidschanischen Gebieten zu arbeiten.
Als positives Zeichen kann man auch interpretieren, dass in diesem Herbst 42 Aserbaidschaner nach dem Testsystem in Hochschulen Georgiens aufgenommen wurden. Die Zahl ist beeindruckend, wenn man bedenkt, dass sie zuvor nie höher als 15-18 lag. Das zeugt auch davon, dass die Bereitschaft der Aserbaidschaner zur Integration in die georgische Gesellschaft durchaus wächst, wenn entsprechende Rahmenbedingungen vorhanden sind. Gaben früher aserbaidschanische Familien ihre Kinder vor allem in russischsprachige Schulen, so  geben sie ihre Kinder in georgische Schulen, um ihnen das Erlernen der Staatssprache und den Zugang zur Hochschulbildung zu ermöglichen.
In der Stadt Marnauli gibt es z.B. eine Mittelschule, wo inzwischen die Hälfte der Schüler aserbaidschanischer Abstammung ist und am 19. November wurde hier eine erste Georgisch-Aserbaidschanische Geisteswissenschaftliche Universität eröffnet.  Hier sollen zukünftig u.a. die Lehrer für die 124 aserbaidschanischen Schulen in Georgien ausgebildet werden. Eine Umfrage, die seitens der Universitätsleitung durchgeführt wurde, zeigte, dass es momentan für die 35 Tausend Schüler der aserbaidschanisch sprachigen Schulen nur 4 Tausend Lehrer gibt, das bedeutet, es herrscht ein Defizit von mindestens 800 Lehrern. Immatrikuliert wurden zunächst 80 Studenten, für die an erster Stelle die Aufgabe steht, die Staatssprache Georgisch zu erlernen.
Ein Beispiel dafür, dass die Aserbaidschaner durchaus die Anstrengungen ihrer Regierung zur Verbesserung der Situation zu schätzen wissen, war ihr Verhalten während des letzten russisch-georgischen Krieges: 50 Freiwillige mit dem Abgeordneten A. Süleymanov an der Spitze meldeten sich an die Front!  Und hunderte Aserbaidschaner standen an, um ihnen als Freiwillige zur Verteidigung ihrer Heimat Georgien zu folgen! Zusätzlich organisierten Aktivisten (Patrioten Georgiens) in fast allen aserbaidschanischen Dörfern Hilfen für die Flüchtlinge.
Alle diese Beispiele können als positive Signale gelten, dass einerseits die georgischen Aserbaidschaner nicht mehr nur als „Gäste“ sondern endlich als vollwertige Bürger seitens der staatlichen Organe angesehen werden und andererseits sich auch allmählich Gefühle und Beziehungen nicht nur der Loyalität sondern auch des Patriotismus gegenüber dem georgischen Staat unter den georgischen Aserbaidschanern entwickeln.
Und beides zusammen lässt Hoffnung schöpfen, dass die Ziele einer Integration erreichbar sind, und wir bald ein neues Bild des Miteinanders von verschiedenen Volksgruppen in Georgien erleben als es Konflikte und Kriege derzeit vermitteln.
Wenn es dem heutigen politischen Establishment gelingt, „die georgische Gesellschaft mit einender auszusöhnen“ , dann könnte Georgien wirklich ein richtiges Vorbild für die ganze Region und insbesondere die kaukasischen Nachbarn werden.
Ich möchte meinen Aufsatz mit den Worten eines georgischen Aserbaidschaners beenden, der sagte: „Die Probleme der Bortschaliner müssen und werden die Patrioten Georgiens lösen!“ – Je mehr sich ethnische Aserbaidschaner und Georgier, wie auch Russen, Osseten, Adscharen, Armenier und viele andere als gleichberechtigte Bürger Georgiens erleben, umso mehr echte Patrioten im Land des „Goldenen Vlieses“ wird es geben.

Dr. Rasim Mirzayev

Literatur:
1.    Auch, Eva-Maria: Die Entstehung der unabhängigen Staaten Georgien, Armenien und Aserbaidschan. In: Kaukasus. Wegweiser zur Geschichte, hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Paderborn-München-Wien-Zürich 2008, S.88-95.
2.    Azerbajdžancy Gruzii  somnevajutsja v effektivnosti programmy integracii nacmen’šinstva v obščestvo -  http://www.narodinfo.ru/news/42211.html (27.01.2008).
3.    Balci, Bayram: Gibt es Platz für den Islam im christlichen Georgien von Michail Saakaschwili? http://www.caucaz.com/home_de/breve_contenu.php?id=68 (06.08.2005)
4.     Berdzenischwili, David: Georgiens größtes innenpolitisches Problem. In: Diaspora, Öl und Rosen, Zur innenpolitischen Entwicklung in Armenien, Aserbaidschan und Georgien, hrsg. von der Heinrich-Böll-Stiftung), Berlin 2004, S.44.
5.    Gasanov, Fazil: Azerbajdžancy Gruzii stali osoznovat’, čto vladenie gosudarstvennym jazykom neobchodimo dlja polnocennoj integracii v gruzinskoe obščestvo – http://www.day.az/news/georgia/132521.html (07.10.2008).
6.    Ibragimli, Khaladdin: Azerbajdžancy Gruzii, Moskau 2006, S. 3 -26.
7.    Kochamua, Mamuka: Azerbajdžancy Gruzii: Problemy graždanskoj integracii. – http://www.ca-c.org/journal/2004-05-rus/20.komprimru.shtml (12.11.2008).
8.     «Na meste Gruzii možet pojavit’sja neskol’ko gosudarstva“ – «Правда.Ру» 02.09.2008,-http://sir35.ru/Caucas/1_080903.htm
9.     „Ot našego dnja solidarnosti zavisit buduščee Gruzii“. Zajavlenie predstavitelja obščestva „Borčaly“ Sakita Allachverdiea,- ИА REGNUM, 27.05.2006.
10.    Pjatdesjat’ azerbajdžancev proživajuščich v Gruzii, otpravilis’ dobrovol’cami v zonu konflikta -  АПА, http://az.apa.az (12.08.2008)
11.    Popžanevski, Jochanna: Nacional’nye men’šinstva v Gruzii -www.regnum.ru/news/743550.html (16:57 22.11.2006)
12.    Reisner, Oliver: Georgien-Transitland im Süden. In: Der Kaukasus. Geschichte-Kultur-Politik, München 2008, S.44.
13.    Rustamov, El’šan: Mečeti v Gruzii ne strojat  – http://life.trendaz.com/?newsid=1134364&catid=902 (3.01.2009)
14.    Clemens P. Sidorko, Ethnische Vielfalt, große Konfliktpotenziale: Die Völker des Kaukasus. In: Kaukasus. Wegweiser zur Geschichte. Paderborn-München-Wien-Zürich, 2008, S.132-133.
15.    Schulze, Wolfgang: Ethnische Vielfalt-Wahrnehmung und Fakten. In: Der Kaukasus. Geschichte-Kultur-Politik, hrsg. von Marie-Garin von Guppenberg und Udo Steinbach, München 2008, S.190.
16.    „S trebovaniem avtonomii dlja azerbaidžancev v Gruzii,-  http://www.echo-az.com/politica08.shtml (28.09.2005)
17.    V Marnauli otkrylsja gruzino-azerbajdžanskij gumanitarnyj universitet imeni Geydara Alieva – http://www.day.az/news/georgia/137301.html (19.11.2008)
18.    „ V Milli Medžlise mogut projti slušanija po položeniju azerbajdžancev Gruzii“,  http://www.day.az/news/politics/137328.html (19 11. 2008)
19.    Xarabuja, Ruslan: Etniceskie menšinstva v Gruzii ili Gruzija na grani raskola,-  http://www.materik.ru/index.php?section=analitics&bulid=222&bulsectionid=26146 (11.11.2008)

 

 

30. September 2008 | Artikel, Kaukasus, Publikationen | Bookmark |
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